|
Rede von Andreas Kölling
Sich preisgeben
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste,
manchmal, so scheint es mir, kommt es gerade auf
die Genauigkeit von Worten an. Gestatten Sie mir daher, das ich
Ihnen die folgende kleine Rede vorlese.
Es ist etwas eigentümliches, eine Ausstellung
- die meines Freundes Karsten Schuster - mit einleitenden Worten
zu eröffnen, zu einem Werk, einem Ausschnitt eines Werkes,
das mit seinen einzelnen Teilen, mit seinen Skulpturen, jeder einzelnen
Skulptur, uns zwar etwas vor Augen stellt, etwas menschlich Herausforderndes,
ein genaues Sehen einforderndes, aber auf eine Art, die nichts mit
bloßem Ausgestellt sein, nichts eigentlich mit Ausstellung
zu tun hat.
Ausstellung. Welch ein schillernder Begriff. Üblich
in Galerien und Museen, kaum des Nachdenkens wert. Für einen
Künstler eben die viel zu seltene Chance, seine Kunst zu zeigen.
Oder, da beginnt bereits das Schillern, in vielerlei Sinn etwas
von sich zu zeigen. Der Begriff „Ausstellung“ kann sogar in Alpträume
eskalieren, worin man sich wie auf einer Bühne beguckt und
wehrlos mit Blicken in einseitiger Preisgabe ausgezogen fühlt.
„Ausstellung“ kann aber auch an einen Jahrmarkt erinnern, wo man
Tanzbären zusieht oder dem dicksten Mann oder der dünnsten
Frau. Ausgestellte Menschen, die den Blicken ausgeliefert sind -
begutachtet von Menschen, die mit der Welt der Betrachteten möglicherweise
wenig gemein haben.
Ein Gedanke, der den umgekehrten Weg einer Einfühlung
nahe legt: Sich für einen Moment hineinzudenken, in diejenigen,
die man betrachtet. Warum nicht zum Beispiel in diese Skulpturen?
Wenn Sie sich nachher die Figuren von Karsten Schuster
genauer betrachten, dann vielleicht auch mit diesem Gedanken: Was
könnte wohl diese oder jene weibliche oder männliche Figur
über Sie als Betrachter denken? Was empfindet vielleicht jene
Figur, die gerade den Kopf zur Seite wendet und wie mit stillem
Stolz, oder gar beschämt, leicht nach unten blickt? Die Ihren
Gang um sich herum dulden muss, die verletzlich, offen, scheu, aber
unausweichlich preisgegeben vor Ihnen steht? Denkt sie: „Achtet
er mich mit einer Aufmerksamkeit, die ich wohl einfordern kann?
Schließlich“, so könnte - wer weiß es - vielleicht
eine dieser Skulpturen denken: „Ich habe den Anspruch, mich nicht
ausgestellt, sondern wahrgenommen zu fühlen. Nicht nur betrachtet,
begutachtet, seziert, gewogen, verglichen. Ich gebe mich preis und
möchte, dass der Betrachteter es auch tut.“
Ich glaube, dieser Gedanke, in eine der ausgestellten
Figuren zu schlüpfen, den Blick umzukehren, beim Besucher Intensität
einzufordern, ist nur denkmöglich, weil diese Figuren einen
solchen Perspektivwechsel nahe legen.
Warum? Vielleicht, weil sie aussehen, als hätten
sie eine Geschichte. Sie sind nicht nur körperlich anwesende
Skulpturen. Sie sind nicht nur Momentaufnahmen von aufeinander abgestimmten
Bewegungen und Stellungen, die mit ihren oft überschlanken,
verlängten Gliedern und Körpern an Einflüsse von
Giacometti oder Lehmbruck denken lassen. Sie sind nicht nur „Hölzer“
mit pohrigen, schrundigen, hautartigen, farblich gefassten, nicht
selten mit Feuer gebrannten, Oberflächen - gebrannte „Kinder“.
Sie zeigen nicht nur einfach manchmal eine glatte, fast poliert
wirkende Oberflächenmaterialität und manchmal eine naturbelassene,
noch die Spuren der Werkzeuge tragende Haut, die man mit Händen
überstreichen möchte. Sie wechseln nicht nur manchmal
einfach ihr Material in Blei, wobei sich dann hier die Proportionen
ins kleine und gedrängt-muskulöse ändern. Sie sind
nicht nur in Gesten erstarrte Holz- oder Bleimenschen.
Sondern: Werke, die man ansieht und - kennen lernen
möchte. Was sie wohl gerade denken. Was sie wohl gerade sehen.
Wie so wohl mich sehen. Wie sie sich in ihren überschlanken
Körpern fühlen. Ja, man möchte sogar wissen, ob sie
nicht nachts, wenn niemand zusieht, sich anders stellen, sich vielleicht
ausruhen von ihren nicht immer anstrengungslosen Zustand. Man möchte
sogar in solchen Nächten dabei sein. Man möchte sogar
wissen, ob sie morgen auch noch so stehen, oder ob sie einem anderen
Betrachter an einem anderen Besuchstag sich einfach anders zuwenden?
Ein Grund immerhin, sich die Figuren mehrmals anzusehen - vielleicht
ertappt man sie ja bei einem ganz leichten Stellungswechsel? Ist
das alles absurd? Nur Eröffnungs-Redenliteratur? Bei einem
immerhin, können Sie sicher sein: Wenn sie sich mit anderen
Betrachtern über diese oder jene Figur austauschen, natürlich
nachdem sie der Figur mit sich selbst nahegekommen sind, werden
sie bemerken: Jede dieser Figuren wendet sich jedem von Ihnen tatsächlich
anders zu.
Ein Wunder? Nein. Nur Kunst. Kunst, so hat der Künstler
es einmal gesagt, ist „etwas besprechen möchten, eine Suche,
ein Aufsuchen und vorzeigen - vor allem von Menschen“.
Da ist zum Beispiel jene Gruppe von sechs einzelnen
Frauenfiguren, die mit einer genau beobachteten Gestik jeweils eine
Haltung auszudrücken scheinen: Erstaunen über das Geschlechtliche,
Verbergen desselben, kindliche Selbstverliebtheit, zurückhaltende
Vorsicht, Abwendung vom Anderen, verhärmte Erstarrung. Aber
diese Eindeutigkeiten gibt es nicht. Ist nicht jene Frauenfigur,
die ihren Kopf zur Seite wendet, abwendet, sich zu sich selbst zu
wenden scheint, nicht auch eine, die bewundert werden will? Die
sich in Ihrer ganzen Verletzlichkeit bewusst und stolz präsentiert?
Oder sehen Sie sich in aller Ruhe die Kopfsteherfiguren an, wie
sie Kopf auf Kopf miteinander verbunden sind. „Soldat und Mädchen“
etwa. Ein vor Schmerz oder vor Lust oder vor Angst oder ein im Angesicht
von Gräueln schreiendes männliches Antlitz, ein körperlos
stehender Kopf. Und über ihm ein armloses Mädchen, mit
Kopf und Körper auf seinem Kopf balancierend oder wie von einem
Globus von ihm getragen? Und sie wirkt so grazil, zart, elegant,
wie eine Tänzerin, die ihr Bein anwinkelt, wodurch uns nun
ihr Geschlecht leicht geöffnet, direkt vor die Augen tritt.
Wer „Eine Männerphantasie“ denkt, soll es einmal wie Baselitz
machen, sich mit seinem Blick auf den Kopf stellen und sehen, wie
diese existenzielle Konstellation andersherum wirkt. Es ist eben
alles eine Frage der Beziehung, die man mit seinem Leben im eigenen
Kopf für den Augenblick mit den Kopfsteherfiguren teilt.
Ja: Es gibt hier an vielen Stellen ein sich Preisgeben
zu entdecken. Das große, ineinander vereinte, schwebende Paar,
Hommage an Platons Symposion - die neueste Arbeit. Die still und
zart beieinander stehenden Paare, sich berührend oder voneinander
abgewandt. Bleifiguren, kleine Etüden, die man bei einer heftige
Lust betrachten kann. Oder die weiblichen und männlichen Figuren
mit ihren geometrischen Zeichen „Kreis“ und „Quadrat“ über
sich und den ganzen sich darum rankenden Deutungswelten.
Ja, man möchte ihre Geschichten wissen. Man
sieht Erotik, Lust, Gier, Stolz, Kraft, Angst, Bestürzung,
Grazie, Scham, Anmut, Verzweiflung, Zerrissenheit, Balancen, Fremdheit
oder Nähe. Man sieht Skulpturen, man sieht Figuren in vielerlei
Formen, man sieht die Arbeit, die in ihnen steckt, man sieht den
Bildhauer, der in ihnen steckt, sieht man sich selbst?
Zum Abschluss diese kleine Geschichte. Ich sah einmal
den Dokumentarfilm eines Amerikaners, der, sehr interessiert, ins
sibirische Noch-Sowjet-Russland fährt, um über das Leben
dort zu berichten. Er kommt auch an eine Eisenbahnstrecke, in ein
Bahnwärter- und Weichenstellerhaus. Die Bahnarbeiter müssen
dort im Winter bei 50 Grad minus und mehr die frostigen Weichen
beweglich halten, mit Schaufeln und Salz und Benzin-Feuer und die
Schneeverwehungen aus dem Wege räumen, und im Frühjahr
und Herbst dem Durchweichen und sich Verwerfen der Bahngleise mit
Händen und Schaufeln wiederstehen, ihr Leben besteht aus Schippen
und buddeln und Verfrierungen und warmen Samowars - ein ewiger Kampf.
Und der Dokumentarfilmer aus Amerika fragt so etwa: „Hey Guys, wie
lebt ihr hier im sibirischen Winter?“ Und der angesprochene Bahnarbeiter
guckt ihn lange an und sagt nichts und guckt und sieht und schweigt
und sagt schließlich: Da kommst Du 3.000 Kilometer hierher,
bist fünf Minuten da und in fünf Minuten weg und willst
wissen wie unser, wie mein Leben ist? Da musst Du Dir schon ein
Leben lang Zeit nehmen um mein Leben zu begreifen.
Wenn ich mich recht erinnere, hat er dann doch dies
und das von seinem Leben erzählt.
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Gäste, ein vorvorletzter Satz. Wer etwas über das Leben
von Karsten Schuster wissen möchte, geboren 1957 in Luckenwalde,
ausgebildeter Steinmetz-Restaurator, seit vielen Jahren im Brandenburgischen
und jetzt auf Burg Goldbeck bei Wittstock lebender und arbeitender
Bildhauer, der besuche zum Beispiel die Webseite www.karsten-schuster.de
oder frage den Künstler.
Ein vorletzter Satz: Ich glaube, dass alle, die Karsten
kennen, sich sehr mit ihm über diese Ausstellung freuen.
Und der letzte Satz vor der Musik: Es darf - zugunsten
der Kunst - in der nächsten Zeit gekauft und jetzt geklatscht
werden. Vielen Dank.
28. November 2004, Zehdenick
Andreas Kölling
|
|
Musik
Henry Mex - Kontrabass, Gesang
Paul Modler - Pianoforte, Kleines Horn
Die Musiker haben das Konzert und die Eröffnungsrede zur Vernissage
aufgezeichnet. So ist ein audiophones Dokument aus Musik, den Stimmen
von Andreas Kölling, dem Galeristen Jörg Zieprig und Besuchern entstanden.
Aus diesem Material sind die einzelnen Musikstücke zu einem fortlaufenden
Konzert zusammengeschnitten worden. Von beide Varianten existiert
eine CD. Mehr Information finden Sie auf meiner Linkseite.
|
|
Presse
"Skulpturen in der Galerie", Gransee
Zeitung, 24. 11. 2004
"Facettenreiches aus Holz modelliert",
Gransee Zeitung, 26. 11. 2004
"Lebensgroß", MAZ, 26. 11. 2004
"Hölzerne Filigranwerke", Gransee
Zeitung, 29. 11. 2004
"Kunst auf dem Kopf", MAZ, 29. 11.
2004
|
|
|
|
|